Shotokan Karate - Ein Pinienrauschen wird zur zum Tiger…
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Die Ryukyu -Inseln sehen aus der Luft aus , als hätte ein Riese am Strand von China gestanden und ein Seil hinüber nach Japan geworfen, um es zu sich heranzuziehen. An diesem Seil hängen die Inseln wie kleine, grünblaue Perlen im Meer, und das ist auch der Name des Inselatolls: Ryukyu heißt „Perlenkette“.
Die größte dieser Perlen ist Okinawa. Und wenn man aus der Luft Okinawa näher betrachtet, erkennt man mitten in einer bewaldeteren Hügellandschaft eine alte, steinerne Samuraifestung namens Shuri. Vor fünfzig Jahren hatten auf den Festungstürmen noch schreiende Krieger gestanden. Hörner waren geblasen worden und der Waffenstahl hatte im Wind geklirrt.
Aber mittlerweile gab es keine Samurai mehr und der befestigte Felsen war erfüllt vom Summen tausender Stimmen; von Leuten, die auf den Marktplätzen Handel trieben oder sich in den schmuckvollen, weithin berühmten Kriegerschreinen an die Götter wandten.
In Shuri traf sich eines Tages Funakoshi Gichin (* 1868 in Naha, damals Königreich Ryukyu, heute Präfektur Okinawa, † 1957 in Tokio) mit seinem Freund Kosugi Hoan in einem Gasthaus.
Gichin hatte vor kurzer Zeit sein Karate in der ganzen Welt bekannt gemacht. Und nun hatte Hoan Gichin dazu überredet, dass seinem Karatestil ein eigenes Wappen gut stehen würde. Anfangs gefiel Gichin diese Idee überhaupt nicht, denn er hatte Karate ja nicht erfunden, sondern selbst von zwei berühmten Meistern gelernt, Ataso und Itosu. Aber als er schließlich vor einigen Jahren einen eigenen Trainingsraum in Tokyo mieten konnte, nannten seine Freunde und Schüler dieses Dojo eigenmächtig „Shotokan“- Halle des Shoto.
„Das Kind muss einen Namen haben“, sagten sie hartnäckig. Shoto heißt auf Deutsch „Pinienrauschen“und war der Fantasiename, mit dem Gichin früher aus Spaß seine Briefe unterschrieben hatte.
Nachdem er sich also an den Namen Shoto gewöhnt hatte, schlug Gichin nun vor, als Wappen ebenfalls Pinienbäume zu nehmen. „Das ist doch Unsinn!“, rief Hoan da.„Kampfkunstwappen tragen wilde Tiere, fürchterliche Fabelwesen und Drachen. Wer hat denn schon Angst vor einem Baum? Heißen die alten, geheimnisvollen Schriften über die Kampfkunst nicht auch Tigerrollen? Sieh hin: Ich zeichne dir deswegen einen Sieger als Wappen!“
Und schon nahm Hōan einen Pinsel, tunkte ihn in schwarze Farbe und malte munter drauf los.
Währenddessen sah Gichin aus dem Turmfenster des Gasthauses hinunter auf den Festungswald und träumte vor sich hin. Der Tiger, den Hoan schließlich zu Papier brachte, hatte die Tatzen wild zu Kampf erhoben und sah furchterregend aus. „Verstehst du, Gichin? Dieser Tiger ist wie dein Karate: geradlinig, stark und gefährlich.“
„Du hast recht“, erwiderte Gichin bedächtig, „aber ich möchte auch zeigen, dass jeder von uns seinen inneren Tiger einsperren muss. Ein Tiger ist sehr mutig, aber er kann auch grausam und zornig sein. Karate bedeutet, das Wilde und die Wut in uns zu zähmen. Wir dürfen nicht einfach den Tiger rauslassen und jeden angreifen, nur weil es uns gefällt.“ Das sah Hoan ein, und er schrieb zum Abschluss seinen Namen neben den Tigerschwanz, um das Wappen zu unterzeichnen.
Anschließend stiegen die beiden den Festungsberg hinunter und folgten einem schmalen Pfad zwischen den Bäumen. Geräuschvoll und mit glücklichen, geschlossenen Augen sog Gichin die Waldluft ein.
Im Pinienhain um die Festung Shuri war er als Junge oft gewandert, wenn das Karate-Training ihm Zeit dafür ließ. Hoch über den beiden zerrte die Seeluft unbarmherzig an den Schlossflaggen und pfiff durch die Steine, aber hier unten wiegten sich die Pinien sanft im Wind und ein zartes Rauschen durchflutete den Forst. Dieses geliebte Pinienrauschen war es, nach dem Gichin seinen Künstlernamen ausgesucht hatte und welches ihn glückseliger machte als alles andere auf der Welt.
Der Pfad stieg an und er führte sie einen schmalen Bergkamm hinauf, der sich zwischen den umgebenden Hügeln dahinschlängelte und über und über mit Pinien dicht bedeckt war. Von der Festung Shuri aus betrachtet sah er aus wie ein Tigerschwanz, und so nannten die Leute ihn auch: Tora-o.
Am höchsten Punkt des Tora-o machten sie Rast. Gichin rollte die Zeichnung mit dem Wappen aus und setzte sich rücklings an einen Baum, um sie sich in aller Ruhe anzusehen. Hoan indes beschattete seine Augen mit der Hand und musterte die Umgebung. Plötzlich kam Gichin eine Idee. Er nahm sich einen flachen Kiesel und begann, breite Streifen in den Tiger zu radieren.
„War dir das Tigerfell nicht genug gestreift?“, fragte Hoan erstaunt, der neugierig herangetreten war. „Bald ist das Tier ja kaum noch zu erkennen!“ „Ganz genau!“, freute sich Gichin. „Der Tiger soll unscheinbar sein, er soll sich verstecken. Ich möchte nicht, dass jemand Karate trainiert, um damit anzugeben und andere einzuschüchtern. Das Karate in uns soll von außen unsichtbar sein, so wie ein verborgener Tiger zwischen Bäumen nur schwer zu erkennen ist.“ Aber noch etwas gefiel Gichin an der Art, wie sein Shotokan-Wappen nun aussah: Es wirkte, als sei der Tiger aus Baumrinde gemalt, der groben Rinde seiner geliebten Pinienbäume.
Funakoshi Gichin löste seinen nachdenklichen Blick von der Zeichnung und die Bäume im Wind nickten ihm zu.
(Quelle: Drache und Tiger, P. Kuhn (Hrsg.) Heidelberg, 2014, S. 85 ff.)